Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU / 2019
The National Socialist Underground (NSU), a far-right German terrorist group uncovered in November 2011, committed a series of racially motivated murders of eight Turkish and one Greek immigrant, the murder of a policewoman, the 2001 and 2004 Cologne bombings and a string of 14 bank robberies. After 13 years of living in hiding, the group was discovered in fall 2011 when two of its members were found dead – presumedly having committed suicide – after a bank robbery in Eisenach, Germany. On July 11th 2018, Beate Zschäpe, the last surviving member of the terrorist group, was sentenced to lifelong imprisonment.
In a 2012 speech, Angela Merkel had promised that everything was being done to find all those who were involved in the NSU crimes. “They are a disgrace to our nation.” the chancellor proclaimed. Five years on, public interest in the NSU complex has cooled down. After 400 days of hearings, with nearly 650 witnesses and experts, the case awakens minimal interest within the nation’s media outlets. In light of the emergence of a new, political right, wing, something that should have been a trauma for the whole nation has become just an impotent shrug of the shoulders.
During the last three years I travelled across Germany to visit both places and people that are associated with the NSU case. It was a search for traces attempting to capture the consternation the NSU case had caused: I wanted to understand how a country looks like, in which a far-right terrorist group was able to murder ten people unhindered - everything under the eyes of German state authorities. Combined with with text fragments from three years of research on the case, including records of conversations with protagonists, authority documents and lawsuit protocols, the work reflects countless unanswered questions regarding the entanglement of the government authorities and the political and social dimensions of the case. What does the existence of the terrorist group and its longstanding, unhindered murdering say about our society and the structures of its executive institutions?
The work was published as a book in July 2019 by Hartmann Projects.
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»Der Job des Sozialarbeiters ist nicht, die Tür aufzuschließen. Sondern mit den Menschen, die kommen, in Kontakt zu treten und ihnen ein Gegenüber zu sein. Weder damals, aus meinem damaligen Blick, noch heute, nach den ganzen Akten und den ganzen Untersuchungsausschuss-Sitzungen ist das wohl passiert und da kann ich nur sagen: schlimm. Und schlimm, dass so etwas ein kommunales Jugendzentrum war. Und dass das auch damals, als es die Kritik schon gab, überhaupt keine Reaktionen gegeben hat. Ich weiß noch, die Junge Gemeinde hat 1997 oder 1998 zu einer Demo aufgerufen nach Winzerla, da hat eine Jugendliche, die war damals 16 oder 17, einen kleinen Flyer gebastelt – mit der Hand geschrieben, A6 – und der wurde dann irgendwie kopiert und verteilt: ›Winzerla ist schon national befreite Zone, wir müssen aufpassen, dass nicht auch das Stadtzentrum eine national befreite Zone wird.‹ Und daraufhin gab es einen Brief von den Sozialarbeitern der Stadt Jena, darunter Kaktus, die geschrieben haben, dass damit ihre Arbeit beschädigt wird, dass die Jugendlichen in Winzerla nicht rechts sind, sondern sozial benachteiligt und dass nur ihre Form der akzeptierenden Jugendarbeit die Jugendlichen vor dem Abtauchen in den rechten Untergrund schützt. – Das war ein paar Monate nachdem die drei untergetaucht waren.« — Katharina König, Mitglied der Partei Die Linke, seit 2009 Thüringer Landtagsabgeordnete
[3] Puppentorso-Verfahren: [a] Gerichtliche Feststellungen und Verfahrensgang: Am 21. 04. 1997 verurteilte das Amtsgericht – Jugendschöffengericht Jena – Böhnhardt wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Volksverhetzungund Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten in Tatmehrheit mit Volksverhetzung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts – Jugendschöffengerichts – Jena vom 06. 12. 1993, [...] zu einer Einheitsjugendstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Der Verurteilung lagen im Wesentlichen folgende Sachverhaltsfeststellungen zugrunde: Am 13. 04. 1996 zwischen 01:00 Uhr und 01:20 Uhr hing Böhnhardt an der Brücke der Bundesautobahn 4 bei km 178,5, genannt »Pösener Brücke«, Gemarkung Bucha, Ortsteil Pösen, einen Puppentorso auf. Der Puppentorso war mit einem gelben Judenstern und einer unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (USBV) versehen. Die USBV bestand aus zwei Kartons, die mit Elektrokabeln an den Puppentorso angeschlossen waren sowie einem Verkehrschild mit der Aufschrift »Vorsicht Bombe«. Auf einem der Kartons mit der Werbeaufschrift »Asti Spumante«fand sich der Abdruck des Mittelfingers der linken Hand Böhnhardts. — Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des »Zwickauer Trios« (»Schäfer-Gutachten«). Freistaat Thüringen, Erfurt, 14. Mai 2012
»Ich war damals – 1995 – 25 Jahre alt, als ich zur Sonderkommission REX, Rechtsextremismus kam, die man später zur Ermittlungsgruppe Terrorismus / Extremismus herabstufte, und habe dort meinen Dienst geleistet bis Frühjahr 1998, bis es zum Eklat kam, nach dieser Garagendurchsuchung, über die ich mich aufregte und beschwerte. Danach versetzte man mich zur ›Geschäftsaushilfe‹ in die Zentralstelle für SED- und Funktionärskriminalität, wo ich zum Teil Sachverhalte aus den Fünfzigerjahren bearbeitete, währenddessen die ›drei‹ im Untergrund waren. Im Vorfeld waren da ja sehr viele Ermittlungsverfahren und Komplexe in der Soko REX, die ich bearbeitet habe, und leider Gottes ist es dann ohne mich geendet, bei dieser Garagendurchsuchung, das wäre für mich ein krönender Abschluss gewesen, allerdings nicht mit diesem Ergebnis, dass man die drei hat laufen lassen. Ich hatte halt intensiv gegen die Mitglieder des ›Thüringer Heimatschutz‹ ermittelt und gerade Böhnhardt und Zschäpe oft vernommen. Ja und nachdem das so ausgegangen war, dass die untertauchen konnten, hat mich das eigentlich nie mehr losgelassen, weil diese ganzen Ungereimtheiten, die ich auch miterleben musste, haben mich immer mehr zur Kritik bewogen an meinen Kollegen, an meiner Behörde, dem LKA, am Verfassungsschutz. Und das hat bei mir dazu geführt, dass ich sehr unbequeme Fragen gestellt habe, vieles in Frage gestellt habe, selbst unbequem wurde. Ja, und als sich dann 2011 diese ›Büchse der Pandora‹ wieder öffnete, als man dieses Wohnmobil da in der Nähe von Eisenach, Ortsteil Stregda, aufgefunden hat, mit Böhnhardt und Mundlos, da ist das natürlich über mich in einem ganz besonderen Maße noch einmal herabgebrochen, obwohl es mich ja nie losgelassen hatte, die ganze Sache. Und als es dann passiert ist, war das unbeschreiblich für mich. Meine schlimmsten Befürchtungen, die ich mal hatte, sah ich bestätigt.« — Mario Melzer, in den 1990er-Jahren Mitglied der Sonderkommission Rechtsextremismus und der Ermittlungsgruppe Terrorismus / Extremismus in Thüringen
»Es war der 6. April 2006, ein Donnerstag. Ein Tag vor meinem Geburtstag. Morgens arbeitete ich im Internetcafé, weil Halit etwas anderes zu tun hatte. Wir wechselten uns ab mit dem Tresen – mal passte er auf, mal ich. Irgendwann am Nachmittag kamen Halit und seine Mutter in den Laden, und meine Frau sagte: ›Ismail, Halit hat mir Geld gegeben, damit wir dir ein Geschenk kaufen. Du sollst es dir selbst aussuchen, hat er gesagt. Fahren wir los.‹ Halit ist dann im Laden geblieben, meine Frau und ich sind in den Baumarkt. Ich habe mir einen Werkzeugkasten gekauft. Wir wollten dann wieder zurück ins Internetcafé, um Halit abzulösen, weil er gegen 17:00 Uhr immer zum Abendgymnasium ging. Bis dahin war er immer im Laden und machte seine Schulaufgaben. Meine Frau und ich waren kurz nach 17:00 Uhr wieder beim Internetcafé, vielleicht war es fünf nach. Normalerweise stand er immer an der Tür, wenn ich ihn ablösen sollte. An diesem Tag nicht. Ich wunderte mich kurz. Ich habe den Wagen geparkt, bin reingegangen. Kein Halit. Ich rief: ›Halit, wo bist du, sitzt du grad selbst an einem der Computer?‹ Mein Blick richtete sich auf das Pult am Eingang, dort, wo die Kunden bezahlen. Ich sah drei kleine rote Tropfen darauf. Ein, zwei, drei kleine rote Tropfen, akkurat nebeneinander. Ich ging näher an das Pult heran. Wieder rief ich: ›Halit, was machst du denn hier mit der roten Farbe?‹ Da sah ich ihn. Er lag dahinter, auf dem Boden. Ich schrie: ›Halit, was ist mit dir?‹ Ich nahm ihn in den Arm, seine Augen verfärbten sich violett. Es reicht. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.« — Aus: »Er starb in meinen Armen«, DIE ZEIT, 42 / 2012, 11. 10. 2012 (Özlem Topçu im Interview mit Izmail Yozgat)
»Zwei Tage durften wir unsere Geschäfte nicht betreten. Zivilbeamte kamen, fragten, ob es die Mafia gewesen ist. Ob es um Schutzgelderpressung ging oder es die Hisbollah gewesen sein könnte. Sie haben uns nicht gefragt: ›Wie ist Ihre Situation, können Sie einer Vernehmung folgen?‹ Ich sagte, ich weiß doch, wer das gemacht hat, das waren die Rassisten, die Neonazis. Der Polizist hat dieses Zeichen gemacht (hält den Zeigefinger vor seinen Mund): Psst, schweige!« — Tag 178, 27. Januar 2015, Arif Sağdic¸, 52, Ladenbesitzer aus Köln. Aus: »Der NSU-Prozess. Das Protokoll
[...] M.: »Gegrillt hat meistens der Gerry, war auch handwerklich geschickt. Geld verwaltet hat Frau Zschäpe, waren mal essen, hat sie bezahlt. Wenn sie uns was mitbringen sollten, habe ich mich immer gleich an sie gewandt und ihr das Geld gegeben. Bezahlt immer bar. Habe gesehen, dass sie eine Menge Scheine im Portemonnaie hatte. Uns wurde ganz am Anfang erzählt, dass die Männer in die Urlaubskasse einzahlen und es die Liese verwalte.« [...] G.: »Verhalten?« M.: »Nett – Gerry hat sich Auszeit genommen. Mit Boot auf das Meer gefahren. Zschäpe wurde dann schon unruhig. Max zum Surfen – mit meinem Mann. Zschäpe auch mit am Strand zum Surfen, hatte das mal versucht. Wenn es abends kälter wurde, hat einer eine Decke für Frau Zschäpe geholt.« [...] — Zeugin Karin M. [Spricht über Uwe, alias Gerry], Tim Aßmann, Holger Schmidt, Eckhart Querner, Gunnar Breske; NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll, 60. Verhandlungstag, 26.11.2013; BR.de, 28. 04. 2014
»Döner-Mord« Nun wird bei Banken gefahndet Mit der ersten groß angelegten Rasterfahndung bei Banken in Deutschland will die Polizei Licht in die mysteriöse Mordserie an sieben ausländischen Kleinunternehmern in Deutschland bringen. Ein Ermittlungsrichter habe gestern einem entsprechenden Antrag der Nürnberger Staatsanwaltschaft zugestimmt, berichtete Justizsprecher Bernhard Wankel. Nach Angaben des Zentralen Kreditausschusses (ZKA) ist es das erste Mal, dass mit einer bundesweiten Fahndung auf die Zahlungsverkehrsdaten zugegriffen werden soll. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg erhofft sich von Informationen über Kontobewegungen die Aufklärung der sieben Morde, die zwischen 2000 und 2005 in Nürnberg, München, Hamburg und Rostock begangen worden waren (wir berichteten). Opfer waren sechs Türken und ein Grieche. Die Ermittler fanden noch keine Verbindung zwischen den Taten. Sie wissen nur, dass immer dieselbe Waffe verwendet wurde. Zuletzt wurden im Juni ein türkischer Dönerstandbesitzer in Nürnberg und ein griechischer Betreiber eines Schlüsseldienstladens in München getötet. [...] — Ngoc Nguyen, Nürnberger Zeitung, 31. 08. 2005
§ 12 (4) Beim Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheimen Informanten und Gewährspersonen dürfen keine Straftaten begangen werden. Bei der Verpflichtung von Vertrauensleuten nach dem Verpflichtungsgesetz vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469, 547) in der jeweils geltenden Fassung sind diese auch schriftlich darüber zu belehren, dass ihnen keine Straffreiheit gewährt wird. — Thüringer Verfassungsschutzgesetz – ThürVerfSchG – vom 8. August 2014
SONNTAG: »Als es dem Ende zuging und das Haus in die Luft gesprengt wurde, da wirkte sie sehr angespannt, sie wirkte sehr unter Stress, hat auch mehr getrunken als sonst. Das letzte Mal hab ich sie gesehen so zirka 14 Tage, bevor das Haus in die Luft flog.« GÖTZL: »Mehr getrunken als sonst – was meinen Sie damit?« SONNTAG: »Es blieb meist im Rahmen, sie musste ja auch mit dem Rad nach Hause fahren. Aber da hat sie Mischungen gemacht mit härteren Alkoholsachen. Sie wirkte sehr gestresst.« GÖTZL: »Hatte sie dann Probleme mit dem Gehen oder Sprechen?« SONNTAG: »Sie kam etwas schwer aufs Fahrrad.« GÖTZL: »Sie haben in der polizeilichen Vernehmung von einem Streitgespräch zwischen Lisa und Frau Kuhn berichtet. Lisa habe ihr eine Standpauke gehalten und sich gar nicht beruhigen können.« SONNTAG: »Ja, da war sie so aggressiv, so kannte ich die Lisa nicht. Sie ist der Frau Kuhn sehr auf die Pelle gerückt. Ich dachte, sie haut ihr eine. Das ist dann aber nicht passiert.« STAHL: »Worum ging es denn in dem Streit?« SONNTAG: »Na ja, wenn Frau Kuhn Geld in der Hand hatte, wurde alles Mögliche gekauft.« STAHL: »Weshalb hat sich Lisa dafür interessiert?« SONNTAG: »Frau Kuhn hat oft Leute angepumpt, Lisa war nicht die Einzigste. Auch dieses Mal ging es darum, dass was gekauft werden sollte für eine Feier. Und Frau Kuhn hat gesagt, dass sie kein Geld dafür hat. Sie wollte wieder von jemand Geld haben. Aber Lisa hat die Nase voll gehabt, dass sie andere immer um Geld angepumpt hat.« — Verhandlungstag 186, 24. Februar 2015, Manfred Götzl, Richter. Gabriele Sonntag, 46, Altenpflegerin aus Zwickau [Spricht über ihre Nachbarin Beate Zschäpe, alias Lisa]. Wolfgang Stahl, 43, Verteidiger von Beate Zschäpe. Aus: »Der NSU-Prozess. Das Protokoll des dritten Jahres«, Süddeutsche Zeitung Magazin, 1 / 2016
§ 13 (3) Eine Akte ist zu vernichten, wenn sie insgesamt zur Erfüllung der Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht oder nicht mehr erforderlich ist. Die Erforderlichkeit ist bei der Einzelfallbearbeitung und nach festgesetzten Fristen, spätestens nach fünf Jahren, zu prüfen. Für die Vernichtung einer Akte, die zu einer Person im Sinne des § 10 Absatz 1, Nummer 1 geführt wird, gilt § 12 Absatz 3, Satz 2 entsprechend. Eine Vernichtung unterbleibt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt würden. In diesem Fall ist die Akte zu sperren und mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen. Sie darf nur für den Zweck verwendet werden, für den sie gesperrt worden ist oder wenn es zur Abwehr einer erheblichen Gefahr unerlässlich ist. Eine Vernichtung der Akte erfolgt nicht, wenn sie nach den Vorschriften des Bundesarchivgesetzes dem Bundesarchiv zur Übernahme anzubieten und zu übergeben ist. — Deutscher Bundestag, Drucksache 18 / 4654, 18. Wahlperiode, 20. 04. 2015
1. Der Antrag des Angeklagten Wohlleben auf Aufhebung wird abgelehnt. 2. Der Antrag des Angeklagten Wohlleben auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls wird abgelehnt. 3. Der Antrag des Angeklagten Wohlleben festzustellen, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist, wird abgelehnt. 4. Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. [...] Der Haftbefehl in seiner abgeänderten Fassung und die Anklageschrift legen dem Angeklagten Wohlleben zur Last, zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt Ende des Jahres 1999 oder Anfang des Jahres 2000, jedenfalls vor dem 9. September 2000, in Jena durch eine Handlung einem anderen Hilfe geleistet zu haben, in neun Fällen einen Menschen aus niedrigen Beweggründen zu töten. Die Tatwaffe, eine Pistole Ceska 83, Kaliber 7,65 mm, nebst Schalldämpfer und Munition, soll der Angeklagte Carsten Schultze von dem Zeugen Andreas Schultz für 2 500 DM erworben und in Chemnitz an die am 4. November 2011 verstorbenen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos weitergegeben haben. Der Angeklagte Carsten Schultze soll den Auftrag zum Erwerb einer scharfen Waffe und das Geld hierzu von dem Angeklagten Wohlleben erhalten haben. — Beschluss vom 25. Juni 2014 des 6. Strafsenat des Oberlandesgericht München zum Antrag auf Aufhebung, hilfsweise auf Außervollzugsetzung, des Haftbefehls gegen den Angeklagten Wohlleben u.a. Aktenzeichen: 6 St 3/12 (10)
GRASEL: »[...] Mitte Dezember 2000, während der Adventszeit, erfuhr ich von den Geschehnissen am 09. 09. 2000. Ich war geschockt. Ich bin daraufhin regelrecht ausgeflippt. Auf meine Frage, warum sie einen Menschen getötet hatten, erhielt ich keine klare Antwort. (Pause.) Vom Bombenanschlag in der Probsteigasse in Köln erfuhr ich erst, als ich sie nach Berichten in der Presse darauf ansprach, ob sie etwas damit zu tun hätten. (Pause.) Mit Blick auf die Tatvorwürfe vom 13. 06. 2001 sowie 27. 06. 2001 kann ich mich nur insoweit äußern, dass ich weder an irgendwelchen Vorbereitungshandlungen noch an den Ausführungen beteiligt war. Ich war einfach nur sprachlos, fassungslos. (Pause.) Am 29. 08. 2001 begingen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt den Mord an Habil Kılıç in München. Ich war weder an der Vorbereitung noch an der Durchführung dieser Tat beteiligt. (Pause.) Am 25. 09. 2002 überfielen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Sparkasse in der Karl-Marx-Straße in Zwickau. Ich war weder an der Vorbereitung noch an der Durchführung des Überfalls beteiligt. (Pause.) Mit dem Mord vom 25. 02. 2004 an Yunus Turgut in Rostock hatte ich nichts zu tun. (Pause.) Am 9. Juni 2004 begingen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt den Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln. Ich war weder an den Vorbereitungshandlungen noch an der Tatausführung beteiligt. (Pause.) Sie erzählten mir auch von weiteren vier Morden, die sie am 09. 06. 2005 in der Scharrerstraße in Nürnberg, am 15. 06. 2005 in der Trappentreustraße in München, am 04. 04. 2006 in der Mallinckrodtstraße in Dortmund und am 06. 04. 2006 in der Holländischen Straße in Kassel begangen hatten. Meine Reaktion ist schwer zu beschreiben: Fassungslosigkeit, Entsetzen, das Gefühl von Machtlosigkeit. (Pause.) Am 25. 04. 2007 ermordeten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Polizistin Michèle Kiesewetter und verletzten den Polizisten Martin A. schwer. Sie hatten mich zuvor nicht darüber informiert. (Pause.) Ich weise den Vorwurf der Anklage, ich sei ein Mitglied einer terroristischen Vereinigung namens NSU gewesen, zurück. (Pause.) Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Opfern und Angehörigen der Opfer der von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Straftaten.« GÖTZL: »Machen Sie sich diese Erklärung zu eigen, Frau Zschäpe?« (Zschäpe nickt.) — Tag 249, 9. Dezember 2015, Mathias Grasel, Verteidiger von Beate Zschäpe. Aus: »Der NSU-Prozess. Das Protokoll des dritten Jahres«, Süddeutsche Zeitung Magazin, 1 / 2016
»[...] Erkennbar werden Tendenzen zu Dominanz, Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Diskussionsfreude. Schließlich gibt es ein Spielen mit Rollen und offenbar eine Freude daran, ein interessantes, schillerndes Bild von sich zu zeichnen. Dagegen gibt es im Brief keine Hinweise für eine psychische Erkrankung mit schwerwiegenden Verstimmungen oder Störungen der Realitätskontrolle, ebenso keine Hinweise auf eine massive Persönlichkeitsstörung. Das aus dem Schreiben entstehende Bild spricht gegen die Hypothese einer schwachen, abhängigen, fremdbestimmten und sich resignierend unterordnenden Person. Hinweise für Brüche in der Entwicklung, eine persönliche Erschütterung oder eine innere Umkehr lassen sich aus dem Brief nicht entnehmen. Allerdings ist dabei natürlich zu berücksichtigen, dass der Brief vor dem Prozess und im Wissen um eine mögliche Kontrolle verfasst wurde. Würde man den Brief weglassen, so ergäbe sich kein gänzlich anderes Bild von der Angeklagten. Vielmehr entspricht das Schreiben der Charakterisierung der Persönlichkeit, wie sie sich aus den Zeugenschilderungen und auch den Beobachtungen in der Hauptverhandlung ergibt. Von daher reiht der Brief sich schlüssig und ergänzend in die übrigen Informationen ein. Das spricht für eine Kontinuität der wesentlichen Persönlichkeitszüge von Beginn der Berichtszeit Mitte der 1990er-Jahre bis in die Gegenwart.« — Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe). NSU Watch Protokoll, 337. Verhandlungstag, 18. Januar 2017